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*NEUJAHR und die Scheinwelt

Die Frau wachte auf am Morgen von Silvester, hörte schon die Böller, die irgendjemand voreilig loswerden wollte und sie wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, dass ein „Fest“ anstand, oder ob es ihr im Laufe der Jahre einfach unwichtiger wurde.

Beim Gassi gehen trifft sie aufgeregte Nachbarn, die ihr alles Gute wünschen, von ihren eigenen Plänen berichten und ihr einen „guten Rutsch“ hinterher rufen und noch ein schnelles „Vor allem Gesundheit – mehr brauchen wir nicht!“.

Die Frau geht weiter, beobachtet ihren Hund, der im Hier und Jetzt lebt, der Silvester und Neujahr nicht kennt und friedlich seinen Weg abschnüffelt.
Gedanken keimen in ihr… Gesundheit, vor allem das! Manche der Vorbeihetzenden wissen ja nicht, was für sie „Gesundheit“ bedeutet. Gesundheit sinniert sie… Sie fühlt sich gesund und doch ist sie unheilbar krank. Und niemand sieht es. Fluch und Segen, wie immer. Daran ändert auch das heranziehende neue Jahr nichts.

„Mehr brauchen wir nicht…“ – da muss sie den Nachbarn fast Recht geben. Wir leben eigentlich in einem Sozialstaat, der für uns sorgt. Manchmal, manchmal auch nicht. Die Frau hat es selbst schon erleben müssen, wie man durch Krankheit an ein Existenzminimum geraten kann, wie schnell die Abwärtsspirale greift und wie viele ihrer MS-Freunde tatsächlich sich genau dort befinden.

 

  *Die Nachbarin wundert sich, warum die Frau so ernst guckt. Silvester, Neuanfang, die Chance auf
Veränderung, feiern – warum beeindruckt das diese Frau so wenig. Warum schaut sie wehmütig,
wenn sie den Wunsch nach Gesundheit ausspricht?
Die Frau wirkt doch gesund, kräftig und einigermaßen wohlhabend. Sie hat doch alles!!!
Eilig zieht sie weiter und hat an der nächsten Ecke diese Frau vergessen.


Die Frau unterdessen stolpert – über NICHTS –  sie stolpert einfach. Ihr Hund schaut erschrocken auf.
Was ist mit seinem Frauchen? Er kennt das aber schon und sein Frauchen läuft wackelig weiter.

  *Ein Vorüberkommender wundert sich und fragt sich, ob diese Frau schon morgens betrunken ist, dass sie (noch dazu mit ihrem Hund!!!) so herumwackelt. Er schüttelt abwertend den Kopf und geht weiter.

 

Die Frau ist wieder „in ihrer Bahn“ und sinniert noch immer über die Gesundheit. Ja, sie hat alles. Sie ist glücklich: glücklich verheiratet, sie hat glücklicher Weise 2 wundervolle erwachsenen Kinder, die wiederum glücklicher Weise wundervolle Partner haben; sie ist glückliche Weggefährtin ihres zuckersüßen und treuen Hundes, sie wohnt glücklicher Weise in einem schönen Haus, hat glücklichr Weise eine tolle Familie und könnte rundum glücklich sein: KÖNNTE! Wäre da nicht dieses kleine unbedeutend scheinende Wort: MS.

 

*Eine „Hundebekanntschaft“ kommt ihr entgegen und bemerkt, wie die Frau etwas entrückt scheint. Er fragt sie, was los sei, sie „wirke so abwesend“. Die Frau antwortet ihm, dass sie gerade tief in Gedanken versunken sei und über ihre Erkrankung sinniere und über das FEHLEN von Gesundheit. Er antwortet ihr: „Naja, es hätte Dich ja noch schlimmer erwischen können!“ und zieht schnell von dannen. Diese Frau ist ihm heute unheimlich.

 

 

Die Frau spürt seinen Rückzug und ist traurig. Sie versteht den Mann – wer möchte schon an einem großartigen Tag wie Silvester mit den schweren Gedanken einer unheilbar Kranken konfrontiert werden? „Man“ ist doch schon in Partylaune.
Sie marschiert tapfer weiter und hofft auf wenige weitere Begegnungen, damit sie nachdenken kann.
Ihr Hund spürt, dass sein Frauchen beschäftigt ist und verhält sich äußerst brav, was die Frau ihm mit einem breiten Lächeln dankt. Er wertet nicht, er fühlt und spürt…

Die Frau geht nach Hause und ist sich dem Verlust über ihre Gesundheit bewusst. Dieser Verlust bringt noch viele weitere Verluste mit sich. Verlust der Autonomie, Verlust von leichtem Laufen, Verlust der Kraft und Energie und somit auch Verlust von ausgelassenem Feiern. Aber sie ist sich tatsächlich auch der großen Geschenke ihres Lebens bewusst.

Sie HAT ein Leben, sie lebt, sie ist glücklich. Die MS schafft sie auch noch. Wie jeden Tag, wie jede Stunde.
Und Silvester feiert sie eben auf ihre Weise mit den ihr liebsten Menschen – in Ruhe, nicht ausgelassen, aber schön und lebensbejahend.

Die Frau lächelt und trifft in diesem Moment eine weitere Nachbarin.

*Die Nachbarin sieht die Frau lächeln und denkt ich: diese Frau hat es doch gut: sie hat Familie, Freunde, ein Häuschen – sie scheint glücklich…! Sie wünscht ihr einen „guten Rutsch“  und zieht schnell weiter…

Hallo „Schein“; Hallo MS; Hallo Leben und Hallo GLÜCK! ©2015 Heike Führ/multiple-arts.com

*Weitere Sachen, die man nicht zu chronisch Kranken sagen sollte

weitere sachen die man zu chr.kranken nicht sagen sollte 201x300 - *Weitere Sachen, die man nicht zu chronisch Kranken sagen sollte

 
– Du musst Dir nur mal einen Tritt in den Hintern
   geben, dann wird das schon wieder!

  • Niemand hat behauptet, dass das Leben fair sei.

  • Es geht einer Menge Leute viel schlechter als Dir!

  • Naja, jeder ist mal depressiv, müde oder erschöpft.

  • Vielleicht solltest Du mehr Vitamine zu Dir nehmen!

  • Du brauchst ein Hobby!

  • Reiße Dich einfach mal zusammen!

  • Du musst es einfach immer wieder probieren!

  • Du hast doch gar keinen Grund, Dich so zu fühlen!

  • Mach einfach mal ne Pause, dann wird es Dir schon besser gehen!

  • Du magst es nicht, Dich so zu fühlen? Dann ändere EINFACH den Zustand!

  • Du hast es doch so gut! Warum bist Du nicht einfach glücklich?!

  • Ich dachte ja, Du wärst stärker!

  • Tu so, als ob es nicht da wäre!
    ©Heike Führ/multiple-arts.com

    Gut gemeinte Rat-SCHLÄGE können für einen bestens informierten chronisch Kranken manchmal verletzend und verwirrend sein.
    MitGEFÜHL ohne MitLEID ist die beste Hilfe, die es geben kann 🙂