Es ist für mich so schwer, mich an GUTEN Tagen zu beschränken. Und zwar in der Hinsicht, dass ich es dann nicht „übertreiben“ darf.
Jeder chronisch Kranke kennt es: wir werden von Symptomen, Schmerzen oder Beeinträchtigungen ausgebremst. Und zwar manchmal massiv. Dies zu verarbeiten und anzunehmen ist eine Aufgabe, die nicht einfach ist und oft holen wir uns dafür auch professionelle Hilfe, wie Psychotherapeuten.
Seine eigenen Grenzen immer wieder auszuloten, ist ebenfalls nicht einfach.
So lange mich meine Fatigue massiv ausbremst, laufe ich gar nicht Gefahr, mich zu überanstrengen, weil es einfach NICHT GEHT!
Wer im Rollstuhl sitzt, wird sich auch niemals einen Lauf-Marathon vornehmen. Wer nicht gut sehen kann, wird sich kein Buch in winziger Schrift kaufen.
Das sind die Grenzen, die wir kennen und auf die wir uns – mehr oder weniger gut – einstellen. Das sind Tatsachen.
Wie aber ist es in der Grauzone?
Wenn z.B. die Fatigue mal ausnahmsweise Pause macht?
Wenn die Beine heute etwas stabiler sind und man es sich zutrauen kann, in der Wohnung umherzulaufen?
Dann sind wir wie ein Kleinkind, das neu ausprobiert, staksend und torkelig umherwandert und sich über jeden Schritt freut, auch über jedes Erlebnis, das man ohne Fatigue geschafft hat und man ist ganz „hin und weg“.
Der Unterschied ist jener, dass sich ein Kleinkind erstens keine Gedanken um ein „MORGEN“ macht und zum Zweiten, Gesundheit vorausgesetzt, keine körperlichen Rückschläge erleiden muss, wenn es vielleicht einen Schritt zu viel gemacht hat.
GRENZEN und Limits bedeuten das „maximal Erreichbare“.
Und der Satz „bis ans Limit gehen“ erklärt „etwas auf extreme Art und Weise auszutesten“.
Umgangssprachlich würde man vielleicht auch sagen: „er/sie hat es übertrieben!“.
Was reizt uns also so, unsere Grenzen auszuprobieren, und auszureizen?
Wir MS`ler sind ja täglich mit unseren körperlichen und oft auch geistigen Grenzen konfrontiert.
Mir geht es dann so, dass ich an guten Tagen gerne wieder an meinem alten „ICH“ andocken möchte. Ich möchte wieder SPÜREN, ERLEBEN, wie es einmal war… Das geht natürlich nie ganz und vollkommen, aber ansatzweise.
Und ich habe mich beobachtet: an den sogenannten guten Tagen, ohne Fatigue und mit nicht-schweren Beinen – da möchte ich toben, da möchte ich LEBEN und agil sein.
Agil und LEBENDIG!
Das war mein altes „ICH“ immer. Agil, lebendig und handlungsfähig. Und genau das ist mir abhanden gekommen. Es wurde mir von meiner MS genommen.
Wen wundert es, wenn ich es mir zurückholen möchte?
Aber dieses Zurückholen ist limitiert. Und zwar deutlich. Auch, wenn ich es nicht wahrhaben möchte.
Ich kann für Sekunden, oder auch Minuten und wenige Stunden vielleicht, ganz zart erahnen, wie es mir in besseren gesundheitlichen Tagen einmal ging. An meinen guten Tagen docke ich dort an, spüre dieses wundervolle Gefühl der Leichtigkeit, des Vollkommenseins, der wilden ursprünglichen Freude.
Wenn diese Limits nicht wären – die mir dann doch sehr schnell meine ureigenen GRENZEN wieder aufzeigen. Manchmal zart, so als Warnsignal, manchmal auch mit Wucht!
Mit üblen Symptomen und einer niederschmetternden Fatigue.
Ende des Ausflugs in die Sorglosigkeit, Ende des Ausflugs in die kleine Grenzenlosigkeit. Ende mit den Glücksgefühlen. Hallo MS!
ABER: Dankbarkeit, diese Momente erlebt zu haben, Dankbarkeit, sie genießen zu KÖNNEN und wieder einmal einen Blick auf mein altes ICH erhascht zu haben. Dankbarkeit, den Kontakt zu meinem alten Ich nicht verloren zu haben. Es ist noch da, wenn man es sucht. Es lässt sich nämlich ebenso wenig unterkriegen, wie sich mein Körper von der MS bestimmen lässt!
Also auf ins Abenteuer der Grenzenlosigkeit und des Getragenwerdens von Glücksmomenten. ©2015 Heike Führ/multiple-arts.com