Die Frau wachte auf nach einer nicht guten Nacht – wie üblich hatte sie nicht gut geschlafen. An Durchschlafen ist seit Jahrzehnten nicht mehr zu denken, an ein gutes Einschlafen ebenfalls nicht und an eine gute Schlafqualität erst recht nicht. Sie hat sich daran gewöhnt. Wie an so Vieles.
Sie hat MS. MS hat 1000 Gesichter, unter anderem hat sie die Fratze des Nicht-Schlafen-Könnens.
Diesmal wird sie von einem unbekannten Geräusch geweckt und muss sich und das Geräusch erst einmal sortieren.
Kehren?
Nein: ein Schneeschieber.
Sie sitzt aufrecht.
Hallo WACH! Ein was? Ein Schneeschieber?!
Erschöpft lehnt sie sich zurück. Ein Schneeschieber.
Die Frau steht auf und schaut aus dem Fenster.
*Die Nachbarin ist fleißig und schiebt den frisch gefallenen Schnee von ihrem Gehweg weg.
Die Frau weiß, dass sie das auch noch vor sich hat. Aber das ist nicht allein das Problem.
*Wieso überhaupt ist Schnee ein Problem? Schnee ist doch etwas Wundervolles: Kinder rennen hinaus und singen: „Es schneit, es schneit…!“, es liegt eine friedliche Stille ganz in weißer Pracht über den Dächern des Vorortes und manch Hund hüpft vergnüglich durch den Schnee. Ein Paradies.
Die Frau zittert. Sie wird gerade überflutet von all der Pracht und gleichzeitig fühlt sie sich wie gelähmt. Schnee, dieses weiße Sternenglitzern, dieses feine Gebilde, es hat auch eine andere Seite.
Eine gefährliche Seite und diese lauert schon. Es lauern unsicheres Gehen, es lauern Ausrutschen und Angst. Angst vor dem Laufen, Angst vor Glatteis, Angst vor einem Sturz.
Und es lauern all diese vielen Emotionen und Eindrücke auf einmal. Sie luken um die Ecke mit ihren Fratzen. Bedrohlich.
Und die Frau fragt sich, warum sie jedes Mal bei Schneefall solchen Fratzen entgegen blicken muss.
Sind es die ohnehin beschädigten Nerven, die sie so dünnhäutig werden lassen?
Ist es die berühmte „Angst vor der Angst“? Ist es übertriebene Angst? Sind es die gemachten Erfahrungen, die sie so zittern lassen?
Die Frau ist optimistisch und schaut nach vorne. Sie wagt sich hinaus und trifft auf die Nachbarin.
*Die Nachbarin begrüßt sie freudestrahlend und sagt sofort: „Ist das nicht herrlich? Solch ein toller Schnee!!!“ Sie strahlt wie ein kleines Kind, sie schiebt und schippt den Schnee, sie vollführt den Schneetanz.
Sie sieht die Frau und wundert sich: alle Welt freut sich über den Schnee, warum schaut die Frau so ängstlich?
Sie blickt auf das Schuhwerk der Frau: dies ist solide und ordentlich. Soll sie sich doch nicht so anstellen! Die Frau ist schließlich noch jung, da kann man doch mal den Schnee wegkehren.
Die Frau nimmt den Schneeschaber und legt los. Stück für Stück, Schritt vor Schritt. Sie ist angestrengt und bemüht sich doch, der Nachbarin gegenüber höflich zu sein.
Die Frau ist froh, wenn ihr Mann wieder zurück ist und den nächsten Schnee-Ansturm beseitigen kann.
Sie spürt, wie ihre Kraft nachlässt – Schnee wegkehren ist Höchstleistung für sie und sie weiß, sie muss sich gleich wieder hinlegen.
*Die Nachbarin plaudert munter weiter und wundert sich immer mehr. Die Frau ist doch sonst nicht so wortkarg. Was ist da los?
Die Frau schafft es, den Gehweg frei zu schaufeln. Sie schafft es ebenso, gute Miene zu machen und sie schafft es auch, ohne auszurutschen, ohne hinzufallen, ohne zu stolpern und ohne Aufsehen ins Haus zurück zu gelangen.
Erschöpft nimmt sie ihre nasse Kleidung wahr und weiß, sie muss sich noch umziehen. Mit letzter Kraft nimmt sie noch diese letzte Hürde, bevor sie sich auf die Couch fallen lässt.
Schnee. Ein Geschenk des Himmel, eine Freude für Kinder und für einen MS`ler ein Drama, das kräftezehrend ist: für die Psyche UND den Körper und das wieder einmal zeigt, dass MS kein Kinderspiel ist.
*Die Nachbarin schaut ihr hinterher und plötzlich dämmert es ihr. Diese Frau ist krank. Man sieht es nicht. Aber sie wusste es und hat es vergessen.
Die Nachbarin nimmt ihren Besen und kehrt den Gehweg der Frau noch einmal komplett frei.
Die Nachbarin weiß, dass sie morgen früh den Weg sofort mit kehrt.
Die Frau erwacht am nächsten Morgen von dem nun bekannten Geräusch und steht auf, mit müden Knochen und den altbekannten Emotionen, die immer die 1000 Fratzen der MS im Gepäck haben und überlegt, wie sie ihren Tagesablauf plant, wenn sie den Gehweg nun kehren muss. Sie geht ans Fenster und blickt auf einen gekehrten Weg. Die Nachbarin hat ihn stillschweigend mitgekehrt.
MS – 2 Buchstaben, eine ganze Welt und ein fürsorgliches miteinander. Manchmal, aber immer wieder.
Hallo MS, hallo Leben, hallo Hilfsbereitschaft. ©2014 Heike Führ/multiple-arts.com