Sorglosigkeit
Ich habe ja schon mal einen Text zum Thema Sorglosigkeit verfasst (http://multiple-arts.com/sorglosigkeit/).
Irgendwie lässt mich das Thema nicht los, denn mir wird immer wieder und vermehrt bewusst, wie viel Sorglosigkeit mir verloren ging. Nicht, dass ich SORGEN ohne Ende habe – nein, das ist es nicht. Aber diese gewisse Leichtigkeit, die mich Dinge hat planen lassen, OHNE vorher genau überlegen zu müssen, wie ich mich am besten einteile, damit ich es schaffe. Einfach drauf los zu laufen (!), zu fahren, zu MACHEN: einfach los legen und unbekümmert den Dingen ihren Lauf lassen können.
DAS ist weg – nicht ganz, aber gehörig….
Die Dinge „einfach“ geschehen lassen … wie sehr wünsche ich mir diese Sorglosigkeit zurück.
Ich vermeide es ja mittlerweile, mit der Straßenbahn oder dem Bus z.B. in die Stadt zu fahren, sondern nehme lieber das Auto, was die Fahrt aber wesentlich teurer macht.
Aber: Straßenbahn/Bus bedeuten so Vieles für Gehandicapte (selbst wenn sie nur schwach betroffen sind, wie ich):
- an die Haltestelle gelangen
- dort warten müssen: das bedeutet Stehen oder einen Sitzplatz suchen müssen – falls einer vorhanden ist.
- In das Verkehrsmittel herein kommen (Menschenmengen, Stufen, Gedränge, und Gewackel)
- Dort möglichst schnell einen Platz finden, bevor das Gefährt losfährt – denn losfahren bedeutet großes „Geruckel“ = extreme Unsicherheit für mein MS-geplagtes Hirn (Gleichgewichtssinn, Kraft, Koordination uvm.)
- a) endlich sitzen: hoffentlich habe ich bis dahin niemanden angerempelt, erschlagen? Habe niemanden unsittlich berührt/überrumpelt? Bin nicht gestolpert und habe hoffentlich einen Platz am Gang gefunden, damit ich nicht nochmals über Fahrgäste steigen muss.
b) Keinen Platz gefunden: ich MUSS stehen. Stehen, während das Gefährt wackelt, ruckelt bremst und Gas gibt: ein Balanceakt der ganz besonderen Art – der nicht nur den Gleichgewichtssinn fordert und überfordert, sondern auch sämtliche andere Regionen im MS-Hirn an triggert und völlig überbeansprucht: eine anschließende Fatigue ist keine Seltenheit.
- Aussteigen: das ganze Procedere von vorne…
- ODER von Anfang an den Schwerbehindertenausweis vorzeigen und somit einen Sitzplatz erhalten, was aber wieder eine Sache für sich ist…
DAS ist nur ein klitzekleiner Ausschnitt aus einer eigentlich so einfachen Fahrt in die Stadt.
Wie kann man da völlig unbefangen in ein solches Ereignis starten? Gar nicht – denn es gehen diesem Ausflug noch weitere Unterfangen zuvor: welche Schuhe sind HEUTE für mich am sichersten; dem Wetter angepasst (nicht rutschig), brauche ich einen Regenschirm, dann kann ich evtl. meinen Gehstock nicht benutzen und mitnehmen usw.!
Kann ich mich unterwegs einmal ausruhen, hinsetzen? Schaffe ich den Rückweg??? Und und und!
Und bei all diesen Überlegungen kann je nach Art der MS noch dazu die Angst vor dem Laufen an sich dazu kommen. Oder bei einem Fatigue`ler, ob er es schafft – und vor allem auch wieder zurück!
Normal? Nein, normal ist das schon lange nicht mehr, aber für uns MS`ler ist das die reine Normalität – es ist unsere Realität.
Die Sorglosigkeit von früher – kurz entschlossen möchte ich in die Stadt fahren, ziehe mich um und renne los, freue mich auf meinen Ausflug und nehme gar nicht wahr, dass die Straßenbahn ruckelt; mich stören auch keine Menschenmengen, keine Stufen, kein Stehen… ich stürme los und lass geschehen – einfach so. SORGLOS!
Man darf sich natürlich vorher nicht verrückt machen – das wird man nun evtl. zu hören bekommen.
Richtig! Darf man nicht! ABER: ich mache mich nicht verrückt, ich plane sorgfältig (und nicht sorglos).
Ich plane deshalb, WEIL ich es schon zig mal erlebt habe, dass ich so einem Ausflug nicht gewachsen bin. Ich habe es erlebt, gerade an der Haltestelle angekommen und dermaßen erschöpft und entkräftet zu sein, dass ich meine 3 Gehminuten zum Haus zurück gerade noch so gepackt habe. Ich habe es erlebt, dass ich fast in einer Straßenbahn zusammenbreche, weil mich das Einsteigen einfach zu viel Kraft gekostet hat. Ich habe es erlebt, wie ich mitten in der Stadt einen Fatigue-Anfall bekam…. Ich habe all das erlebt und DESHALB muss ich mich vor jedem Ausflug etwas sorgen – planen und organisieren, ein Energie-Management betreiben uvm.!
Ich MUSS das – ich möchte es NICHT!
DAS ist der Unterschied.
Aber: ich habe es auch oft genug erlebt, dass ich es SCHAFFE, dass ich zwar müde nach Hause gekommen bin, aber diesen einen Ausflug hinbekommen habe. Auch das gehört dazu und gibt uns dann ein klein wenig unserer so schwer vermissten Sorglosigkeit zurück. Hallo Leben, Hallo MS!
©2014 Heike Führ/multiple-arts.com
Du sprichst mir aus der Seele. Da ich selbst keinen Führerschein besitze, bin ich trotz meines Handicaps (Diagnose MS im Jahre 2000) in den letzten Jahren mit Bus und Bahn zur Arbeit gefahren. Ein Albtraum, in der Großstadt. Busse voll, Schulkinder unterwegs – in der Sommerhitze ein Gräuel. Erst im Jahre 2011 habe ich den Schwerbehindertenausweis erhalten, mit Kennzeichen “G” also Sitzplatzberechtigung, den ich auch manchmal eingesetzt habe. Ja, es stimmt, die Spontaneität ist es, die einem verloren geht. Viele Verabredungen, die man aufgrund seiner Tagesform nicht einhalten kann, reduzieren den Freundeskreis erheblich. Neue Freundschaften schließen ist nicht einfach. Das Leben wird komplizierter, auch wenn man weiss, dass die frühere Sorglosigkeit auch auf einer Täuschung beruhte, schließlich kann einem überall und jederzeit etwas Unangenehmes zustoßen. Daher versuche ich, die Risiken zu minimieren und mich auch ein kleineren Erfolgen wieder zu erfreuen, wenn ein Schub vorüber ist und ich den Rollator irgendwann wieder in die Ecke stellen kann. Es bleiben Gangunsicherheit und nur kurze Gehstrecken zurücklegen können – also jeder Spaziergang ist nur möglich, wenn alle paar Meter Bänke stehen (Botanischer Garten z.B.) oder ich nutze die Gartenmäuerchen der Umgebung. Das erhöht zwar das Aufkommen der Wäsche, denn die langen Hosen sind nach einem Spaziergang reif für die Waschmaschine) aber so ganz und gar möchte ich mir die Bewegung im Freien nicht nehmen lassen. Ein Umzug aus der alten, großen Wohnung mit Balkon (leider 3. Stock, kein Aufzug) in eine Hochparterrewohnung, kleiner, aber teurer als früher) haben mir auch ein paar Sorgen genommen. Es geht immer weiter, für uns MS-ler und auch für unsere nichtbehinderten Mitmenschen. Kaum jemand kann sich in unsere Situation reinversetzen. die Fatique sieht man uns nicht an…. Ich versuche immer, aus allem das Beste zu machen und bin nun seit diesem Jahr nach über 40 Berufsjahren Rentnerin geworden. Ohne die Alltagslasten des Berufes geht es mir mittlerweile wieder etwas besser, Bus & Bahn gehören der Vergangenheit an, zumindest, was den Arbeitsweg angeht. Sorglosigkeit – die wird es nicht mehr geben, eher dezente Freude und dezente Genussmöglichkeiten, aber immer noch besser, als hinterm Ofen versauern. Der Umgang mit der Krankheit ist für mich jetzt nicht mehr so schwierig. Es war aber auch höchste Zeit, dass ich zur Ruhe kommen konnte. Das merkt man meist im Nachhinein. Vielen Dank, dass ich das jetzt hier so schreiben durfte. Liebe Grüße aus dem sonnigen Rheinland.
Hallo und guten Morgen, Heike.
Vielen Dank, dass Du meinen obigen Beitrag veröffentlicht hast.
Eine Bitte hierzu: kannst Du meinen Nachnamen bitte rausnehmen aus dem Beitrag, das wäre nett.
Und dann hab ich einen Tippfehler gefunden – gleich in der ersten Zeile meines Beitrages: ich schrieb: Du schreibst mir “auf” der Seele, meinte aber “aus der Seele” …
Ansonsten gehts mir soweit ganz gut, ich hab gerade eine Donaukreuzfahrt erlebt. Die Anstrengungen bei den Ausflügen waren etwas zu viel für mich, das würde ich mir nicht mehr zumuten. Einmalige Eindrücke entschädigen mich jedoch. Manchmal übernehme ich mich leider immer noch – da muss ich noch lernen, besser auf mich aufzupassen. Aber ich bereue es nicht, diese schöne Fahrt gemacht zu haben – daran werde ich sicher sehr häufig denken.
Vielen Dank !
Liebe Grüße & hab einen schönen Sonntag,
wünscht Dir herzlich
Sabine
Liebe Sabine, ich habe es verbessert 🙂
Ganz liebe Grüße und DANKE für dein Dabeisein 🙂
Heike 🙂
Vielen Dank 🙂
Erst seit kurzem habe ich diese Seite hier gefunden und stöbere mich so langsam durch.
Manches muss ich eben erst mal sacken lassen, und es entwickeln sich ständig neue Gedanken.
Es erfordert eine komplette Umorganisation des gewohnten Alltages, es tun sich allerdings auch viele neue Möglichkeiten auf, was mir sehr gefällt.
Deine Seite hier gefällt mir sehr, nochmals ein herzliches Dankeschön, dass man hier teilhaben darf. Liebe Grüße aus dem sonnigen Rhein.
Herzlichst
Sabine
Ich danke DIR liebe Sabine und freue mich, dass Du Teil unserer Gemeinschaft hier bist <3
Von Herzen alles Liebe, Heike