Oft habe ich an Hand meiner beiden mittlerweile erwachsenen Kinder schon beschrieben (http://multiple-arts.com/kinder-von-mslern/) wie wertfrei Kinder mit einem Elternteil, das an einer chronischen Krankheit leidet, aufwachsen können. Sie erleben zwar hautnah mit, was es wirklich bedeutet, chronisch krank zu sein, aber sie reifen daran auf ganz besondere Art und Weise. Und schließlich und endlich haben sie keine Wahl: sie wurden (entweder bewusst nach der Diagnose, oder noch vor der Diagnose) in diese Familie hineingeboren. Es ist ihr Schicksal. Sie können diesem sowieso nicht entfliehen – das heißt, alle Beteiligten müssen das Beste daraus machen. Warum dann nicht gleich das Allerbeste J und wundervolle junge Erwachsene heranziehen?! 🙂
Bei fast allen älteren Kindern von MS`lern konnte ich eine besondere Sensibilität feststellen, ein früheres Reifen – das aber nicht negativ war, sondern einfach wertfrei „nur“ reifer..! Verständnisvoller vielleicht. Das bedeutet nicht, dass ein Kind von chronisch Kranken keine normale abgedrehte Pubertät durchlaufen würde (das bleibt den Wenigsten erspart, was aber auch seine Richtigkeit hat), sondern sie bekommen ein besonderes Gespür für andere Menschen und deren Bedürfnisse.
Anmerken möchte ich aber auch, dass es leider auch andere Fälle gibt, ohne auf die Problematik hier eingehen zu wollen. Dieser Text soll als Mutmacher verstanden werden. 🙂
Dass ein 12-Jähriger genau über diese Fähigkeiten verfügt, durfte ich bei einer Gartenparty feststellen, auf der einige MS-Blogger mit ihren Kids anwesend waren.
Ich hatte lange gestanden und mich gut unterhalten, als ich merkte, dass mein rechtes Bein bedenklich taub wird. Das heißt: nicht nur taub, sondern es drohte wegzuknicken. Also war es notwendig, mir schnell einen Sitzplatz zu suchen, den ich auch am Tisch einer lieben Mit-Bloggerin fand. Sie fragte mich, was los sei und ich erklärte es kurz. Kurz heißt: EIN Satz: „Mein Bein ist taub, ich muss mich hinsetzen!“ (Das Tolle unter MS`lern ist ja, dass dieser eine Satz meist ausreicht, um dem anderen quasi das ganze Ausmaß in diesem Satz verpackt mitzuteilen). Ich ruhte mich etwas aus und wollte die tolle Band fotografieren, aber merkte, dass ich dafür wieder aufstehen müsste und sagte dann zu meiner Kollegin, dass ich dann eben später ein Foto schießen würde. Ihr 12-jähriger Sohn saß dabei und genoss gerade seinen Nachtisch, aber er hatte anscheinend alles mitbekommen. Er sah mich daraufhin nämlich an und sagte: „Soll ich für Dich das Foto machen, denn Du hast ja ein taubes Bein und kannst nicht aufstehen!“.
Noch während ich dies hier schreibe, bekomme ich wieder Gänsehaut und mir kommen die Tränen. Vor Rührung. Er sagte das ganz ruhig – WERTFREI. Es war eine Feststellung, ohne Mitleid, ohne Drama – einfach so!
Ich war regelrecht geflasht, als er so selbstverständlich zu mir sprach und sagte ihm dann auch, dass er ein besonderer Junge und sehr aufmerksam sei, und ich bedankte mich. Er fotografierte dann tatsächlich für mich die Band und erklärte mir noch einiges an meinem Handy, was nicht richtig eingestellt war. 🙂
Diese Situation war so atemberaubend – im wahrsten Sinn des Wortes blieben mir die Luft und die Worte weg – vor Staunen. Staunen, weil Kinder es schaffen, was wir Erwachsenen oft nicht hinbekommen: wertfreies Handeln. Einfach so. Selbstverständlich, ohne Umstände.
Ich erzähle diese Geschichte, weil ich allen Eltern MUT machen möchte. Natürlich bekommen unsere Kinder deutlich mehr „Leid“ mit, als Gleichaltrige, deren Eltern gesund sind. Aber dies gibt ihnen auch eine einmalige Chance zu wachsen und zu besonders sensiblen Persönlichkeiten heranzuwachsen.
Dass ich mich in diesen jungen Mann verliebt habe, steht außer Frage. 🙂
Da blicken mich zwei wundervolle blaue Kinderaugen an und der Besitzer dieser Kulleraugen handelt so erwachsen, wie wir Erwachsene es kaum hinbekommen würden!
Wir dürfen unseren Kindern deutlich etwas zumuten, wir dürfen sie belasten und fordern. Die Gratwanderung ist es, die das Maß ausmacht, aber das kennen wir aus der Erziehung unserer Süßen auch ohne MS! Wenn wir ihnen die Chance geben, an der speziellen Situation, die vielleicht auf Grund der MS in einer Familie herrscht, zu wachsen, dann geben wir ihnen sehr wertvolles Handwerksmaterial mit auf ihren Lebensweg – und das kann ihnen niemand jemals wieder nehmen. Denn sie integrieren es in ihren Alltag, in ihr Heranwachsen und investieren somit in ihre Zukunft. Eine Zukunft als sensible aufmerksame Erwachsene, die es gelernt haben, mit schwierigen Situationen „einfach“ umzugehen, die ohne nachzudenken Auswege kennen oder suchen, sowie Wege, wie man mit der entsprechenden Situation umgeht. Nämlich anpackend, wertfrei und einfach selbstverständlich.
Immer noch habe ich Gänsehaut bei den Gedanken an diese Situation und wünsche mir mehr solcher jungen Kerle und „Kerlinnen“. 🙂
Und ich wünsche jedem Elternpaar, dass es sich bewusst wird über diese besondere Gabe, die man bei seinem Kind fördern kann. Wir haben ein einmaliges Werkzeug mit auf den Weg zu geben, da die Kinder das „Learning by doing“ praktizieren können. Einfach so, weil es ihr Schicksal ist – ihr Weg und ihre Chance! © 2016 Heike Führ/multiple-arts.com