Im Gespräch mit meiner Freundin, die ebenfalls MS hat, ist uns einmal so richtig bewusst geworden, wie sehr wir unser Leben der MS seit der MS-Diagnose angepasst haben, bzw. anpassen MUSSTEN.
Wir haben beide vor 20 Jahren unsere Diagnose bekommen. Meine Kinder waren damals 6 und 9 Jahre alt, ihre waren noch nicht einmal geboren…
Als ich auf dem linken Auge plötzlich blind war und noch erhebliche Gleichgewichts- und Koordinations-Störungen, sowie Schwierigkeiten mit dem Laufen und Treppen steigen hatte, war mein erster Gedanke: oh je, die Kinder!
Auch, als die Diagnose im Krankenhaus gestellt wurde, ich eine Cortison-Stoßtherapie bekam und sich die Sehnerventzündung zurückbildete, musste ich immer wieder an meine Kinder denken: sie hatten nun eine beeinträchtigte Mama mit sehr ungewissem Ausgang der Krankheit.
Mir wurde bewusst, mit welcher Leichtigkeit ich die Jahre zuvor als Mutter gelebt habe. Und nicht nur als Mutter: als Ehefrau, Tochter, Freundin und Nachbarin.
Diese Sorglosigkeit und Leichtigkeit war nun vorbei. Nicht gewollt und bewusst, oder gar gelenkt, sondern es war ein FAKT, dass ich Manches nicht mehr konnte – gerade in Bezug auf die Kinder.
Und als wir so sprachen, wurde uns bewusst, dass wir schon 20 sehr lange Jahre lang die „Gewissheit“ mit uns herum TRAGEN, dass wir unheilbar krank sind und sich ganz plötzlich der Zustand noch verschlechtern kann.
Wenn man so überlegt, fragt man sich, wie man das überhaupt aushält. Wie lebt man, wie agiert man?
Man arrangiert sich damit, aber diese Nerven, die dabei tatsächlich angegriffen und zerstört werden, die bekommt man niemals wieder.
Wie oft hab ich am Bett meiner Kinder gesessen und mich gefragt, ob ich denn mit all meinen Einschränkungen noch eine gute Mutter bin. Wie oft habe ich mich ins Dachgeschoss zu meinem Sohn hoch gequält und das jedes Mal mit dem Gedanken, dass es vielleicht das letzte Mal war, dass ich es schaffe. Wie oft habe ich am Bett meiner Kinder gesessen und über meine Situation geweint und gehofft, dass sie niemals von dieser Krankheit betroffen werden.
Wie oft konnte ich bei Ausflügen der Schulklasse nicht helfen, bzw. als Begleitperson mitgehen, obwohl ich die Zeit dazu gehabt hätte???!!!
Wie oft habe ich ihnen (und auch Anderen) vorgegaukelt, mir ginge es gut, um sie nicht zu belasten???
Das kann sich jemand, der das nicht erlebt hat, sicher nur schwer vorstellen.
Jahrzehntelang tragen wir nun diesen Ballast,
diese wirklich enorme LAST mit uns herum –
kein Wunder, dass heute unser Körper auch mal bei belanglosen Dingen MS-bedingt streikt.
Denn er hat schon 20 Jahre Last auf „dem Buckel“! Der Rücken ist krumm von all der Last, er kann sich nicht mehr aufrichten und das Seelchen hat tiefe Narben und Wunden erhalten, die sich nicht mehr reparieren lassen. Jahrzehntelang tragen wir Angst und oft auch Panik (mehr oder minder) still mit uns herum und üben uns in absoluter und ständiger Selbstkontrolle. Wir zerbrechen nicht daran, aber wir werden Wunden davon tragen …
Auch ist die psychische Belastung dieser Last nicht zu unterschätzen, die dann wiederum oftmals eine Depression auslöst. Man nennt diese dann „reaktive Depression“, da sie durch äußere Umstände verursacht wird. Und durch lange und andauernde psychische Belastungen kann sich eine Erschöpfungsdepression entwickeln. Dies alles schleppen wir also schon 20 jahre mit uns herum …
Meiner Freundin und mir sind noch zig weitere traurige Beispiele eingefallen, aber es wäre müßig, sie alle aufzuzählen. Genauso müßig ist es, sich zu überlegen, wann eine MS, die niemand haben will, „am Besten“ auftritt – am ALLERBESTEN NIEMALS!
Und doch denke ich, dass in jungen Jahren eine fortschreitende MS zu bekommen, einem erheblich Lebensqualität nimmt und die Psyche ungemein belastet und sie und der Körper auch im fortschreitenden Alter dann zerbrechlicher sind. Einfach deshalb, weil man diese 20 Jahre lang nicht gesund, nicht normal leistungsfähig war und der MS täglich die Stirn bieten musste. Ein Kampf, der Kräfte raubt!
Aber auch hier gibt es sicher viele Unterschiede, verschiedene MS-Verläufe, verschiedene soziale Gefüge, in dem sich der Betroffene befindet und man kann es nicht verallgemeinern.
Aber ich wünsche jedem, dass er solange wie möglich fit bleibt und MS erst so spät wie möglich bekommt. Diese Jahre davor sind dann nämlich geschenkte Jahre, die mit nichts, wirklich NICHTS zu ersetzen sind.
Hallo MS, hallo Beeinträchtigung und Trauer.©Heike Führ/multiple-arts.com